Predigt in der Versöhnungskiche Travemünde am 1. September 2024
am 14. Sonntag nach Trinitatis
„Und das geschah auf Jesu Weg nach Jerusalem: Jesus durchwanderte das Grenzgebiet zwischen Samarien und Galiläa. Als er in ein Dorf einzog, kamen ihm zehn Männer entgegen. Sie hatten Aussatz und blieben in einiger Entfernung stehen. Laut rufend baten sie: Jesus, Meister, habe Erbarmen mit uns! Als er sie sah, rief er ihnen zu: Geht hin und zeigt euch den Priestern! Und das geschah: Unterwegs wurden sie rein von ihrem Aussatz. Doch als einer von ihnen merkte, dass er geheilt war, kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme. Er fiel auf sein Angesicht zu Füßen Jesu und dankte ihm. Und das war ein Samariter! Darauf antwortete Jesus mit den Worten: Sind nicht zehn rein von ihrem Aussatz geworden? Wo sind die neun anderen? Gab es niemanden, der zurückkehren wollte, um Gott die Ehre zu geben - außer diesem einen, der einem anderen Volk zugehört? Und er sprach zu ihm: Steh auf und geh, dein Glaube hat dich gerettet!“
(aus Lukas 17)
Wer war Jesus von Nazareth? Ein ganzes Pastorenleben lang hat mich diese Frage, die Suche nach dem sogenannten historischen Jesus, beschäftigt. Auch wenn ich irgendwann zu der Erkenntnis gekommen bin, dass angesichts der Quellenlage wohl nicht mit neuen Antworten zu rechnen ist, bleibt es ja eine wichtige Frage. Denn unser Glaube beruht auf der Person, die um das Jahr 30 unserer Zeitrechnung in Galiläa gelebt hat, und auf dem Bekenntnis zu dieser Person: „Ich glaube an Jesus Christus“ haben wir eben wieder gesprochen.
Für die Frage nach dem historischen Jesus sind die drei Evangelien nach Markus, Matthäus und Lukas die wichtigsten Quellen; das Johannesevangelium geht seine eigenen Wege. Und da schält sich neben manchem anderen wohl doch heraus, dass Jesus auch eine heilende, heute würden wir sagen: therapeutische Begabung gehabt haben muss. Sie hat er im Sinne seiner Botschaft vom herankommenden Reich Gottes als Zeichen dafür eingesetzt. Wie auch immer man die Heilungsgeschichten im Einzelnen beurteilen mag: ihr Kern „Jesus der Heiler“ lässt sich nicht wegdiskutieren.
Einen dieser Heilungsberichte, den von den 10 Leprakranken, haben wir vorhin als Evangelium gehört. Aber wo berührt mich dieser Text, wo möchte ich gerne mehr wissen - oder an uns alle die Frage gestellt: Wo fühlen wir uns angesprochen, wo möchten wir gleichsam einsteigen in diese Heilungsgeschichte? Es wäre mir zu platt, einfach zu sagen: Jesus ist der Heiland, der Heiler, und wir müssen an ihn glauben - und das wäre dann die Botschaft dieser Geschichte. In dieser Geschichte passiert viel mehr, und wir müssen uns, wie ich schon sagte, gleichsam in sie hineinbegeben, damit auch mit uns etwas geschieht.
Ich will nachher sagen, wo mich die Geschichte am meisten anspricht. Ich will aber auch ein paar andere Möglichkeiten aufzeigen, wo sie uns anrühren könnte. Wer als aussätzig galt, als leprakrank, musste den Kontakt und die Berührung mit allem meiden. Deswegen rufen die Männer auch Jesus nur aus der Distanz zu. Wohl fälschlicherweise galt die Lepra als ansteckend, aber das Bakterium führt häufig zu furchtbaren Begleiterscheinungen und meistens in der Vergangenheit auch zum Tode, wenn nicht eine wirksame Therapie eingesetzt wird. Anfällig für die Lepra sind Menschen, deren Immunsystem geschwächt ist. Offensichtlich hat Jesus alles dafür getan, dass diese Menschen wieder zu Kräften kamen, auch wenn keine Einzelheiten mitgeteilt werden. Wir erinnern uns auch an die Speisungsgeschichten - auch sie haben wohl einen historischen Kern. Jesus sorgte dafür, dass Menschen in seiner Umgebung wieder satt wurden.
Wer als aussätzig galt, musste den Kontakt mit allem meiden, war isoliert, war unrein, asozial. Auch in unserer Gesellschaft gibt es Menschen, die ihre eigene Lebenswirklichkeit in dieser Situation wiederfinden: gemieden werden, ausgegrenzt werden, an den Rand gedrückt werden. Menschen beispielsweise, die als psychisch krank gelten, von denen man gehört hat, dass sie einen Psychiatrie-Aufenthalt hinter sich haben. Ich denke auch an Obdachlose. Solche Menschen mögen die Hoffnung haben, dass einer käme und sagte: Zeige dich den Priestern oder den Sozialarbeitern oder den Journalisten, und sie werden sehen: Da ist nichts an dir, was zu vermeiden ist, du bist nicht der Aussätzige, für den sie dich halten, du bist nicht abgestempelt, du bist genauso wichtig und wertvoll wie alle anderen!
Unsere Aufmerksamkeit wird damit auf die Frage gelenkt: Wen grenzen wir aus, wen drängen wir an den Rand, mit wem wollen wir nichts zu tun haben? Ich habe meine Probleme mit den Gestalten, sage ich einmal absichtlich hart, die ich fast täglich bettelnd am Bahnhof sehe...
In der Jesusgeschichte werden die Ausgrenzer nicht erwähnt, aber es gab sie mit Sicherheit in den Dörfern, sonst hätten die 10 ja nicht außerhalb leben müssen. Und da werden wir eigentlich mehr indirekt an unsere Ausgrenzungsstrategien erinnert, die Jesus so häufig durchbricht. Ob sich unsere, meine Abwehrhaltungen gegen bestimmte Menschengruppen verändern lassen? Können sie aufgeweicht werden durch das anstiftende Beispiel Jesu?
Sie wissen, dass der heutige Sonntag im Deutschland ein besonderer Tag ist. In Thüringen und Sachsen finden Landtagswahlen statt. Wo werden diese beiden Länder heute Abend politisch stehen? Man könnte stundenlang darüber diskutieren, warum die AfD, die sogenannte „Alternative für Deutschland“ wahrscheinlich sehr viele Stimmen bekommen wird. Man kann sicher über die richtigen Wege in der Migrationspolitik streiten, aber was die AfD, etwa auf ihren Wahlplakaten, fordert, ist pure Ausgrenzung. „Abschieben, abschieben, abschieben“ steht da zu lesen. In den östlichen Bundesländern, wo es prozentual gar nicht so viele Ausländer gibt wie in den westlichen, ist das eiskalter Ausgrenzungspopulismus: Migranten raus – und alle gesellschaftlichen Probleme lösen sich wie von selbst auf!
Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der Migration. Das Gerede von einer vermeintlich reinen Rasse, wie es nazigleich im AfD-Jargon heißt, ist biologisch gesehen Unsinn. Schon immer sind Menschen ausgezogen, mussten fliehen und ein neues Zuhause suchen. Das ging und geht nicht ohne Reibereien ab. Wie sähe unser Leben hier in Lübeck aus, wenn es nicht freundliche, tätige Ausländerinnen und Ausländer gäbe? Unser afghanischer Nachbar ist Busfahrer geworden, ein Freund aus Eritrea arbeitet nun als Pflegefachkraft. Ein syrischer Mann in Schaffnerkleidung, der bei der Flüchtlingskrise 2015 bei uns im Sprachcafé war, erkennt mich im Bahnhof und ruft mir fröhlich zu. Ich denke, wir alle kennen ausländische Menschen, ohne die vieles nicht funktionieren würde.
Kehren wir zu der neutestamentlichen Geschichte zurück: Zehn werden wieder gesund - aber von neun von ihnen hören wir nichts mehr. Könnte es sein, dass da eine Haltung angesprochen wird, die wir auch bei anderen, aber genauso manchmal auch bei uns selber, finden können: Tolle Sache, alles ist gut gegangen, aber nun mache ich meinen Weg! Was soll ich mich noch mit dem Gewesenen beschäftigen? Ich habe mir schon manches Mal vorgenommen, das Gute, das mir einer angetan hat, auch dann dankbar anzuerkennen, wenn mich manches andere an dem Betroffenen nervt. Es ist so leicht, sich loszulösen und aus dem Staube zu machen, und es ist irgendwo auch billig.
Und dieser Aspekt der Geschichte steht in einem ziemlichen Gegensatz zu dem letzten, der mich am meisten angerührt hat. Einer von den 10, ein verhasster Samaritaner, ein Ausgegrenzter aus der jüdischen Gesellschaft obendrein, kommt nach seiner Heilung zurück, er fällt Jesus zu Füßen und dankt ihm, aber es heißt auch, er pries Gott mit lauter Stimme. Sicher wird manchmal der Dank an Menschen, der doch so wichtig ist, auch zu einem einengenden Muss. „Du bist ein undankbares Kind, Du musst doch deiner Mutter dankbar sein!“ Aber hier, so scheint es, ist nicht von einem Muss die Rede. Der Samariter achtet auf das, was mit ihm geschehen ist, und da ist nur noch unverstellter, explodierender, rausgerufener Dank.
Ich stelle mir vor, dass Jesus ihn sanft berührt hat, und er entlässt ihn mit einem wunderbaren Segenswort: Steh auf und geh - dein Glaube hat dich gerettet. Das ist wunderbar und doch merkwürdig: Dein Glaube hat dich gerettet.
Zunächst aber möchte ich sagen, warum mich dieser Aspekt der Geschichte so anrührt: Weil ich von Situationen in meinem Leben weiß, wo es mir ähnlich gegangen ist, wo ich hätte schreien und hüpfen können vor Dankbarkeit. Aber ich weiß auch von anderen Momenten, wo ich mich davon gemacht habe wie die neun. Wenn ich achtsam hinsehe in mein Leben, dann gibt es so viel, das mich dankbar sein lässt, und dann möchte ich mich an den wenden, von dem Jesus erzählt und gehandelt hat, an Gott. Und ihn möchte ich bejubeln und preisen, weil ich weiß, dass mein Jubel und mein Preisen bei ihm so unendlich viel besser aufgehoben ist als bei den Menschen. Gott wird meinen Dank annehmen, aber er wird keine Forderungen daraus ableiten. Er hat mich beschenkt, aber er verlangt keine Gegenleistungen. Er freut sich, wenn es mir gut geht und ich jubeln kann.
Ist das vielleicht gemeint mit dem „Dein Glaube hat dich gerettet“. Ist damit vielleicht nicht ein Glaube an etwas gemeint, sondern eine Gestimmtheit des Herzens, die ja übrigens auch dann ihre Berechtigung hat, wenn Klage und Zorn das Herz zerreißen. Beides zeigen uns die Psalmen auf einprägsame Weise. Und beides mal ist der Adressat Gott, den die neun, die doch gottesfürchtige Juden waren, vergessen haben.
Vielleicht habe ich andere wichtige Aspekte der Heilungsgeschichte übersehen. Aber vielleicht habe ich Sie an der einen oder anderen Stelle doch auch mit hineingenommen in eine mögliche Gottesbeziehung, die doch etwas mit unserem Leben zu tun hat. Wo bleibt da Jesus? Heute möchte ich es so ausdrücken: Auf eine ganz stille Weise stellt er uns durch das, was im Neuen Testament von ihm erzählt wird, Lebenssituationen vor Augen, die das Leben bereichern.
Unsere Gesellschaft ist derzeit geprägt von Missstimmung, Abwertung, Rückzug in die eigene Befindlichkeit. Wie es anders gehen kann, hat der Parteitag der Demokraten in Amerika vor ein paar Wochen gezeigt: Heiterkeit, Freude, Anstiftung zur Überwindung der Gräben.
Wenn wir uns auf Jesus einlassen, stellen sich Lebenszuversicht und freundliche Zuwendung zum anderen ein. Begeben wir uns in die Jesus-Geschichten und leben sie, so gut wir können! Durch ihn mögen wir erspüren, was unser Leben tiefer und dankbarer machen kann. Er ruft uns zu: Steh auf und geh - dein Glauben hat dich gerettet.
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Gottesdienst am 11. Sonntag nach Trinitatis (11. August 2024) in St. Philippus in Lübeck
Auch vor langer Zeit, als es noch keine gläsernen Spiegel gab, sahen Menschen ihr Gesicht oder sogar ihren ganzen Körper als Abbild: im Wasser eines Flusses oder eines Sees. Denken wir an den Jüngling Narziss aus der griechischen Mythologie, der sein Spiegelbild im Wasser sah und sich in dieses verliebte. Wir begegnen uns selbst heute schon am frühen Morgen: Beim Schminken oder beim Rasieren zum Beispiel. Neben der Frage: Wie sehe ich denn heute wieder aus?, könnte der eigene Anblick auch dazu führen, dass wir uns fragen: Bin ich denn der, den ich da sehe? Das muss kein Gedanke aus dem Bereich der Schizophrenie sein, sondern es kann eine gesunde spontane Regung sein.
Schauen wir uns die Wirklichkeit unseres Lebens mit seinen Höhen und seinen Tiefen an, kommen wir wohl nicht um die beunruhigende Feststellung herum, dass wir verschiedene Ichs haben; andere sprechen davon, dass wir verschiedene Rollen spielen. Da ist einer in seinen beruflichen Bezügen ein anderer als im häuslichen Leben. Da ist eine im Kontakt mit den Kindern eine andere als im Streit mit dem Mann. Wir ändern unser Verhalten in den unterschiedlichen Situationen unseres Lebens, ob wir es wollen oder nicht. Und manchmal sagt uns ein anderer Mensch den harten Satz: Ich erkenne dich nicht wieder...
Schwer ist die Frage zu beantworten, was es eigentlich ist, was unsere Persönlichkeit zusammenhält. Anspruchsvoller formuliert: Worin unsere Identität besteht? „Ich ist ein anderer“, so hat es in seiner Jugend der französische Dichter Rimbaud formuliert, wohl als Ausdruck einer tiefen Sehnsucht, ein mit sich selbst identisches Ich zu werden. Er möchte vielleicht zu einer inneren Balance und Stabilität finden, die sich dann wie ein roter Faden durch das Leben ziehen würde.
Wir haben neulich im Familienkreis drei Geburtstage gefeiert, und in einer sehr bewegenden Gesprächsrunde war es die Aufgabe, dass jeder sagen möge, was er an dem anderen, speziell an den Geburtstags“kindern“, schätzt. Als selbst Beteiligter habe ich mich gefragt, ob ich das wirklich bin, was die anderen an Gutem von mir sagten. Bin ich nicht manchmal tatsächlich auch ein anderer – mit den dunkleren Seiten meiner Persönlichkeit zum Beispiel?
Genug davon. Und sicher haben Sie sich schon gefragt: Wie kommt der denn an diesem Sommertag auf solche schwierigen Fragen? Nun, meine einfache Antwort lautet: Weil mich der Predigttext für diesen Sonntag dazu angeregt hat! Dieser Text, den ich gleich lesen werde, ist eine so schwere Kost, dass ich ihn unmöglich ganz auslegen kann. Er stammt aus dem neutestamentlichen Brief des Apostels Paulus an Gemeinden in Galatien und geht so:
„Wir wissen, dass der Mensch nicht gerecht gesprochen wird, weil er die Tora einhält, sondern nur durch den Glauben an Christus Jesus. Darum sind wir auch zum Glauben an Christus Jesus gekommen, damit wir durch den Glauben an Christus gerecht gesprochen werden und nicht durch das Einhalten der Tora, weil aus dem Einhalten der Tora kein Sterblicher gerecht gesprochen wird. Wenn wir aber bei unserem Bestreben, in Christus gerecht gesprochen zu werden, selbst auch als Sünder erkennbar wurden, soll damit gesagt sein, dass Christus der Sünde zuarbeitet? Das kann nicht sein! Vielmehr: Wenn ich das, was ich für ungültig erklärt habe, wieder gelten lasse, stelle ich mich selbst als Gesetzesübertreter hin. Denn ich bin tot für die Tora, und das hat die Tora selbst bewirkt, damit ich für Gott lebe. Ich bin mit Christus mitgekreuzigt, darum lebe nun nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir; das Leben, das ich jetzt noch körperlich führe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat. Ich weise die Gnade Gottes nicht zurück; denn wenn Gerechtigkeit durch die Tora möglich ist, dann ist Christus umsonst gestorben.“
(Galater 2, 16-21)
Das soll ein Mensch, soll eine Predigthörerin verstehen! Hallo, Herr Paulus, geht’s nicht ein bisschen einfacher? Schauen wir genauer hin: Was ist damals, Mitte der 50iger Jahre unserer Zeitrechnung, passiert? Soweit wir es rekonstruieren können, hat Paulus erfahren, dass in den von ihm gegründeten galatischen, das heißt keltischen Gemeinden (ob in der Gegend des heutigen Ankaras oder an der Mittelmeerküste, ist unklar) fremde Apostel aufgetaucht sein müssen. Wahrscheinlich waren es christlich gewordene Juden, sogenannte Judenchristen. Sie haben verkündet, dass man nur Christ sein kann, wenn man sich an die Vorschriften der Tora, des jüdischen Gesetzes der fünf Bücher Mose, hält: Männer müssen sich beschneiden lassen, Speisevorschriften und jüdische Festzeiten sind einzuhalten. Das hat Paulus als einen Frontalangriff auf sein Verständnis des Christentums verstanden – und er wehrt sich in dem Brief, den er nach Galatien schickt, dagegen mit bitterer Schärfe und beißender Ironie. Hatte er doch verkündet, dass das Christsein die Tora (und auch die Gesetze der heidnischen Völker) überwindet und diese für das Heil des Menschen als untauglich qualifiziert. Zwar kappt er als Jude, der er selbst war, nicht alle seine Beziehungen zum Judentum (wie der Brief nach Rom deutlich macht), aber der Umweg über die Tora ist für Menschen, die Christen sein wollen, ein Irrweg, weil inzwischen etwas geschehen ist, das in den Augen des Paulus die Tora überwindet: Kreuzestod und Auferweckung Jesu Christi sind die Eckpfeiler der neuen Heilsbotschaft.
Ein Schlüsselbegriff ist dabei für Paulus die Rede von der Gerechtigkeit. Was kann den Menschen in seinem sündigen Dasein gerecht werden, das heißt von Gott angenommen sein lassen? Nach Paulus sind die Regeln der Tora außer Kraft gesetzt, denn nun lebt, Zitat: „Christus in mir. Das Leben, das ich jetzt noch körperlich führe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat.“ Das ist alles, und es ist genug. Wir erinnern uns an das Evangelium: Der Pharisäer, der stolz darauf ist, alle Gebote zu halten, kann vor dem Zöllner, der sich sieht, wie er ist, nämlich als Sünder, nicht bestehen.
Luther hat die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders allein durch die in Christus erschienene Gnade Gottes weiterentwickelt. Er schätzte den Galaterbrief so, dass er schrieb, dieser sei ihm so lieb wie seine Frau Katharina von Bora. Und Luther hat daraus geschlossen, dass der Mensch immer sozusagen in zwei Welten oder Reichen lebt: dem weltlichen und dem geistlichen.
Im Sinne des Anfangs meiner Predigt könnte ich davon sprechen, dass der Mensch nach Paulus und vor allem nach Luther immer mindestens zwei Ichs hat: eines im weltlichen und eines im geistlichen Bereich. Das hat übrigens in der Geschichte zu einer ungeheuren Aufwertung des Individuums, des einzelnen Menschen, geführt. Jede, jeder ist allein vor Gott und muss sehen, wie das Leben gemeistert werden kann. In der Wirkungsgeschichte dieser Veränderung hin zum Einzelnen stehen wir noch heute. Dabei taucht mehr und mehr die Frage auf, ob das nicht auch zu einem Egoismus geführt hat, der die anderen und die Gesellschaft als Ganze außen vorlässt.
Mir ist auch fraglich, ob das Leben in der Welt so aufgesplittet werden kann, wie es Luther mit seiner 2-Reiche-Lehre getan hat. Diese hat ja sehr bald auch problematische Folgen gezeitigt, weil der weltliche Bereich, sprich die Herrscher, schon zu Luthers Zeiten hart regierten und etwa die rebellierenden Bauern unterdrückten und töteten. Und natürlich kann, gerade in unseren Tagen, die Frage gestellt werden, ob nicht im Inneren wie im Äußeren ein Regelwerk notwendig wäre, an das sich alle, einzelne und Völker, zum Wohl der geschundenen Welt halten. Die Charta der Vereinten Nationen ist für manche Mitglieder leider nur eine Tarnkappe für eigenmächtiges, destruktives Handeln.
Ich kehre noch einmal zu den Sätzen des Paulus im Brief nach Galatien zurück und blende die 2-Reiche-Lehre Luthers aus. Könnte ich sagen und könnten Sie, liebe Gemeinde, sagen, dass wir ein körperliches Leben in der Welt führen und gleichzeitig daran glauben, dass unser multiples Ich durch Gott und Christus eine Erweiterung erfahren hat, die für unsere Identität heilsam ist? Dafür feiern wir doch auch heute wieder Gottesdienst. Dafür lesen wir am Morgen die Tageslosung. Deshalb versuchen wir, Menschen im Alltag freundlich zu begegnen, die Umwelt zu schonen und uns für den Frieden einzusetzen. Darum hören wir geistliche Musik, wie Freitagabend im Dom die wunderbare „Marienvesper“ von Claudio Monteverdi.
Nebenbei bemerkt: Die Katholische Kirche hat sich mit ihrer Verehrung Marias gleichsam ein 2. Standbein neben dem Glauben an Jesus Christus geschaffen. Zusammengefasst: Alles kommt darauf an, worauf unser Leben bezogen ist und was uns trägt.
Ich weiß nicht, ob Christsein heute schwieriger geworden ist als in früheren Zeiten, die wir manchmal so gerne verklären. Die Christin und Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, Katrin Göring-Eckardt, erfährt in diesen Tagen beim Wahlkampf in den ostdeutschen Bundesländern viel Aggression, bis hin zur Gewalt. Sie versucht, dem aus dem Geist des Evangeliums heraus zu begegnen. Ich sage für mich, dass Christsein im Sinne Jesu einen Fuß in die Tür der Welt setzt, die taumelt. Und schildere noch eine persönliche Beobachtung an mir selbst. Seit einiger Zeit spreche ich, wenn eine Kirchenglocke ruft, leise vor mich hin: Gott, ich danke Dir!
Ich schließe mit einem Auszug aus Worten, die Dietrich Bonhoeffer im Gefängnis kurz vor seiner Hinrichtung geschrieben hat:
„Wer bin ich?
Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest,
wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.
Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.
Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig, lächelnd und stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.
Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
oder bin ich nur das, was ich selber von mir weiß?
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“
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