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Jörg Scholz

Gottesdienst am Sonntag „Rogate“ (5. Mai 2024) in der Versöhnungskirche Travemünde

Vor dem Predigttext sei kurz geschildert, „was bisher geschah“: Auf seiner 40jährigen Wanderung durch die Wüste Sinai nach dem Auszug aus Ägypten waren die Israeliten an den Berg Sinai gekommen. Die Entbehrungen durch die Öde der Wüste ließen das Volk immer wieder murren und von den Fleischtöpfen Ägyptens träumen. Mose, ihre Führungspersönlichkeit, hat alle Hände voll zu tun, die Menschen zu besänftigen. Zusammen mit seinem Bruder Aaron steigt er auf den Berg und bekommt dort in Gestalt von zwei steinernen Tafeln die 10 Gebote von Gott.

Hier setzt dieser Text aus dem 32. Kapitel des 2. Buches Mose ein:

"Gott sprach aber zu Mose: Geh, steig hinab; denn dein Volk, das du aus Ägyptenland geführt hast, hat schändlich gehandelt. Sie sind schnell von dem Wege gewichen, den ich ihnen geboten habe. Sie haben sich ein gegossenes Kalb gemacht und haben’s angebetet und ihm geopfert und gesagt: Dies sind deine Götter, Israel, die dich aus Ägyptenland geführt haben. Und Gott sprach zu Mose: Ich habe dies Volk gesehen. Und siehe, es ist ein halsstarriges Volk. Und nun lass mich, dass mein Zorn über sie entbrenne und sie verzehre; dafür will ich dich zum großen Volk machen. Mose wollte den HERRN, seinen Gott, besänftigen und sprach: Ach, HERR, warum will dein Zorn entbrennen über dein Volk, das du mit großer Kraft und starker Hand aus Ägyptenland geführt hast? Warum sollen die Ägypter sagen: Er hat sie zu ihrem Unglück herausgeführt, dass er sie umbrächte im Gebirge und vertilgte sie von dem Erdboden? Kehre dich ab von deinem glühenden Zorn und lass dich des Unheils gereuen, das du über dein Volk bringen willst. Gedenke an deine Knechte Abraham, Isaak und Israel, denen du bei dir selbst geschworen und verheißen hast: Ich will eure Nachkommen mehren wie die Sterne am Himmel, und dies ganze Land, das ich verheißen habe, will ich euren Nachkommen geben, und sie sollen es besitzen für ewig.
Da gereute Gott das Unheil, das er seinem Volk angedroht hatte."

Zusammengefasst: Das wartende Volk hatte sich aus dem Schmuck der Menschen ein goldenes Kalb gemacht, das sie anbeteten. Gott ist zornig, will Israel vernichten und nur Mose und seine Nachkommen zu einem großen Volk machen. Daraufhin wendet sich Mose, bittend um Gnade, an Gott und erinnert ihn an seine Verheißungen. „Da gereute Gott das Unheil, das er seinem Volk angedroht hatte.“

Wie geht es in der Bibel weiter? Obwohl Gott von seinem Vorhaben absah, ist Mose entsetzt über den Abfall des Volkes, zerbricht bei der Ankunft vom Berg die zwei Tafeln und ordnet ein großes Gemetzel unter den Männern an, bei dem Dreitausend getötet wurden. Nun bittet Mose Gott wieder um Erbarmen, darf die zwei Gesetzestafeln erneuern und zieht dann weiter.

Das ist sehr verkürzt erzählt, und natürlich haben Bibelwissenschaftler das 2. Buch Mose (wie die anderen Schriften der Bibel auch) kritisch durchleuchtet. Das Ergebnis ist, dass gerade bei dem geschilderten Ablauf wohl mehrere literarische Schichten miteinander verwoben sind. Bis hin zu der Frage, ob sich das alles überhaupt so zugetragen haben kann. Das soll uns heute aber nicht weiter beschäftigen.

Auszug aus Ägypten nach der Sklaverei – Zug durch die Wüste Sinai – Empfang der 10 Gebote und schließlich der Einzug in das Gelobte Land Kanaan: Das ist für Israel und die jüdische Religion ein wesentlicher Teil der großen Erzählung der Geschichte Gottes mit seinem Volk. Ich verweise nur auf die jüdischen Feste, die bis heute diese Geschichte ausdrücken. Wir bewegen uns also auch mit dem Predigttext auf dem Boden des Judentums; ich nehme als Vorlage für meine Predigt einen jüdischen Text. Ist das nicht eine Grenzüberschreitung, wenn ich das tue? Diese schwer zu beantwortende Frage findet schon ihren Ausdruck darin, dass wir vom „Alten Testament“ sprechen, dem unser „Neues“ folgt. Heute wird vorsichtig lieber vom „1. Testament“ oder der „hebräischen Bibel“ gesprochen, um dem Eindruck entgegenzuwirken, wir Christen hätten das Judentum gleichsam „überholt“.

Eigentlich müsste sich jetzt ein Mensch jüdischen Glaubens zu unserem Text mit dem Dialog zwischen Mose und Gott äußern. Mir kam angesichts des Handelns Israels in diesen Wochen eine Frage nicht aus dem Sinn: Denken die politischen und militärischen Führer des Staates Israel im Blick auf Gaza nicht auch einmal darüber nach, ob es Gottes Wille sein könnte, dass vom Unheil des Tötens und Zerstörens abgelassen werde? Wo, möchte ich fragen, ist Gott in den Köpfen der Verantwortlichen? Und damit meine ich nicht nur die religiösen Hardliner, die ja auch in der Regierung sitzen und die die Palästinenser am liebsten zum Teufel schicken würden. Dass mit der Hamas die moslemische Gegenseite genauso fanatisch gehandelt hat und handelt, muss natürlich auch angemerkt werden.

Nach diesem Ausflug in die Gegenwartspolitik möchte ich zurückkehren zu unserem Predigttext und ihn auf uns hin als exemplarisches, gleichsam zeitloses Geschehen abklopfen. Das Symbol des „Goldenen Kalbs“ hat schon in der Vergangenheit (etwa in der Literatur) zu zahlreichen Assoziationen geführt. Die Menschen, die Massen, schaffen sich etwas Handfestes, Dingliches, an dem sie sich berauschen können und tanzen davor. Für mich als jemanden, der kein Auto mehr besitzt, ist der deutsche Kult um das Auto ein sinnfälliger Vergleich. Angeblich sind in keinem Land der Erde die Menschen so auf das Auto fixiert wie bei uns (ich nehme mal die Finnen aus, die ausgemachte Liebhaber alter Autos sind). Da tut sich (wie in anderen Gegenwartsfragen auch) ein merkwürdiger Widerspruch auf: Man weiß um die Gefahren, um die Umweltprobleme, um die Opfer des Verkehrs - aber wenn es darum geht, dem etwas entgegenzusetzen, knicken alle ein, weil das Goldene Kalb es so will. Fast alle Länder der Erde haben ein Tempolimit, aber in Deutschland wird ein solches auf Autobahnen verweigert. Mag sein, dass es nur geringfügig zur Schadstoffreduzierung führen würde. Aber es würde den Menschen in unserem Land etwas ganz Wichtiges signalisieren: Nämlich, dass es Zeit ist, innezuhalten, umzudenken, buchstäblich auf die Bremse zu treten. „Kehrt um“, das ist eine der biblischen Kernbotschaften von den Propheten über Johannes den Täufer bis hin zu Jesus von Nazareth und Paulus.

Andere „Goldene Kälber“ unserer Zeit wären das Smartphone, der Konsumzwang, die Ich-Bezogenheit, das ständige Nutzen der sog. „Sozialen Netzwerke“, der ach so einfache Gebrauch der Internet-Giganten wie Google und Amazon, obwohl es Alternativen gibt, und manches andere. Sie, liebe Gemeinde, werden Ihre eigenen Einfälle dazu haben!

Zurück zum Text, der ja sicher seinen Eingang in die Leseordnungen des Sonntags Rogate/Betet/Bittet/Wünscht gefunden hat, weil Mose es flehentlich wagt, Gottes befürchtetem Zorn entgegenzutreten. Wir, mich eingeschlossen, reden nicht gern vom zornigen Gott – bis hin zu der Missdeutung, das Alte Testament zeige einen rachsüchtigen Gott, während das Neue nur vom liebenden sprechen würde. In den Wirrnissen des Lebens einer Gesellschaft und der Einzelnen gibt es zuhauf Erfahrungen der Gottverlassenheit, des Zweifelns, ob da ein gerechter Gott ist. Es gibt Momente tiefster Erschütterungen, die einen Adressaten suchen. Das drückt das Bild vom Zorn Gottes aus. Dem kann sich der gläubige Mensch nicht entziehen, der ungläubige Mensch wird andere Ausdrucksformen suchen wie die Rede vom grausamen Schicksal.

Also dürfen wir in unseren Gebetsbitten, in unseren Fürbitten, auch den Wunsch ausdrücken, dass Gott von seinem Zorn ablassen möchte – und wissen doch gleichzeitig, dass wir dafür auch etwas tun können und müssen.

Wer ist dann Gott, den wir ja nicht sehen oder dem wir uns naturwissenschaftlich-messbar nähern können. Schon bei der Frage nach dem Geschlecht Gottes geraten wir ins Schleudern. Für den großen Theologen Paul Tillich ist Gott „das Sein selbst“. Das ist für mich ein akzeptabler Gedanke. Ich beziehe mich gleich auf einen anderen Theologen: Er hieß Henning Luther, war Professor der Praktischen Theologie in Marburg, und starb schon mit 44 Jahren 1991. Er stellte die gewagte und Sie vielleicht erschreckende These auf, dass Gott ein „fiktives, ein angenommenes, Gegenüber“ ist. Er ist mehr als die von Ludwig Feuerbach postulierte Projektion von uns Menschen selbst auf das Gottesbild. Dieser Gott setzt eine Differenz, einen Abstand, in uns selbst – und zwar für den Einzelnen wie für die Gesellschaft. Wenn wir von ihm sprechen, veranlasst das uns, unsere Grenzen zu erkennen und sie vielleicht auch zu überschreiten. 

Ein Beispiel für das, was ich meine: Ich verbringe einen schönen Tag und lasse ihn vor dem Einschlafen noch einmal Revue passieren. Das kann ich so tun, dass ich mir sage: Wie gut hast du doch alles heute gemacht! Ich kann es aber auch tun, indem ich bete: Gott, ich danke dir für diesen Tag! Damit anerkenne ich die Grenzen meiner Rolle im Leben und weiß, dass eben nicht alles in meiner Hand stand und steht.

Unser Episteltext heute (1. Timotheus 2) charakterisiert Jesus als einen Mittler zwischen Gott und den Menschen, eine Formulierung, die sich bei Paulus in den sog. echten Paulusbriefen nicht findet. Die uns aber vielleicht einleuchtet. Ob Jesus vom „fiktiven Gott“ gesprochen hätte? Er gebraucht das schöne Bild Gottes vom Vater im Himmel. Aber besonders fällt auf, wie er von Gott und seinem Reich redet, nämlich vorzugsweise in Gleichnissen! Jesus sagt nicht: Gott ist ein alter Mann mit Bart…Er malt keine naturalistischen Bilder von Gott, sondern Jesus schildert Alltagserfahrungen, um von Gott zu erzählen. Alltagserfahrungen, die überraschen, verfremden und vielleicht/hoffentlich einen Aha-Effekt zur Folge haben. Was für eine tolle Geschichte guter Zudringlichkeit haben wir vorhin von dem Menschen gehört, der zum Freund geht, weil er Brot braucht, weil ein anderer Freund Hunger hat! Und das um Mitternacht! (Lukas 11)

Für jüdische Menschen hat dieser fiktive Gott Gestalt angenommen in der Tora, die wir fälschlicherweise Gesetz nennen. Die Tora, die 5-Bücher-Mose, sind für Juden geschenkte Weisung, Leitlinien zum Leben. Für uns Christen hat dieser Gott, der keine Götterbilder braucht, noch einmal anders Gestalt bekommen im Leben, Handeln und Reden des Jesus von Nazareth und in seinem Kreuz. Zu ihm hat sich Gott bekannt, damit wir Glauben haben.

Wenn Jesus von Gott und seinem Reich erzählt, dann will er uns überraschen; und ich stelle mir vor, dass Mose mit seiner Bitte an Gott, er möge vom Unheil absehen, selbst überrascht war – und Gott überrascht hat. „Bittet, und es wird euch gegeben werden; sucht, und ihr werdet finden; klopft an, und es wird euch geöffnet werden! Denn jeder, der bittet, empfängt; wer sucht, der findet; und wer anklopft, dem wird geöffnet werden.“ (Lukas 11)

Was ist unser dringliches Bitten, was suchen wir, in welche Tür wollen wir klopfend eintreten? Immer wieder werden wir Menschen uns Goldene Kälber bauen, aber wir können unsere Blicke und Gedanken auch auf den Heiligen Geist richten, der uns immer wieder neu verheißen wird.

Wir beten abschließend mit Worten aus dem 14. Jahrhundert:
„Christus, du hast keine Hände, nur unsere Hände, um deine Arbeit heute zu tun. Du hast keine Füße, nur unsere Füße, um Menschen auf deinen Weg zu führen. Christus, du hast keine Lippen, nur unsere Lippen, um Menschen von dir zu erzählen. Du hast keine Hilfe, nur unsere Hilfe, um Menschen an deine Seite zu bringen.“


Predigt am 14. April 2024 in der Reformierten Kirche über 1. Mose 16

Ich habe mich für die Predigt heute für einen Text entschieden, der erst durch die Überarbeitung 2018 in die Leseordnungen vieler evangelischer Kirchen aufgenommen wurde:

Sarai, Abrams Frau, gebar ihm kein Kind. Sie hatte aber eine ägyptische Sklavin, die hieß Hagar. Und Sarai sprach zu Abram: „Siehe, Gott hat mich verschlossen, dass ich nicht gebären kann. Geh doch zu meiner Sklavin, ob ich vielleicht durch sie zu einem Sohn komme.“ Und Abram gehorchte der Stimme Sarais. Da nahm Sarai, Abrams Frau, ihre ägyptische Sklavin Hagar und gab sie Abram, ihrem Mann, zur Frau, nachdem Abram zehn Jahre im Lande Kanaan gewohnt hatte. Und er ging zu Hagar, die wurde schwanger. Als sie nun sah, dass sie schwanger war, achtete sie ihre Herrin gering. Da sprach Sarai zu Abram: „Das Unrecht, das mir geschieht, komme über dich! Ich habe meine Sklavin dir in die Arme gegeben; nun sie aber sieht, dass sie schwanger geworden ist, bin ich gering geachtet in ihren Augen. Gott sei Richter zwischen mir und dir.“ Abram aber sprach zu Sarai: „Siehe, deine Sklavin ist unter deiner Gewalt; tu mit ihr, wie dir's gefällt.“ Da demütigte Sarai sie, sodass sie vor ihr floh. Aber der Engel Gottes fand sie bei einer Wasserquelle in der Wüste, nämlich bei der Quelle am Wege nach Schur. Der sprach zu ihr: „Hagar, Sarais Sklavin, wo kommst du her und wo willst du hin?“ Sie sprach: „Ich bin von Sarai, meiner Herrin, geflohen.“ Und der Engel Gottes sprach zu ihr: „Kehre wieder um zu deiner Herrin und demütige dich unter ihre Hand.“ Und der Engel Gottes sprach zu ihr: „Ich will deine Nachkommen so mehren, dass sie der großen Menge wegen nicht gezählt werden können.“ Weiter sprach der Engel Gottes zu ihr: „Siehe, du bist schwanger geworden und wirst einen Sohn gebären, dessen Namen sollst du Ismael nennen; denn Gott hat dein Elend erhört. Er wird ein Mann wie ein Wildesel sein; seine Hand wider jedermann und jedermanns Hand wider ihn, und er wird sich all seinen Brüdern vor die Nase setzen.“ Und sie nannte den Namen Gottes, der mit ihr redete: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Denn sie sprach: „Gewiss habe ich hier hinter dem hergesehen, der mich angesehen hat.“ Darum nannte man den Brunnen: Brunnen des Lebendigen, der mich sieht. Er liegt zwischen Kadesch und Bered. Und Hagar gebar Abram einen Sohn, und Abram nannte den Sohn, den ihm Hagar gebar, Ismael. Und Abram war sechsundachtzig Jahre alt, als ihm Hagar den Ismael gebar.

Ich will die schwierigen historisch-kritischen Fragen nur andeuten – ein Versuch ihrer Beantwortung würde zu weit führen. Wie erklärt sich etwa der Namenswechsel von „Abram“ zu dem uns vertrauten „Abraham“? Wie erklärt sich der Wechsel von „Sarai“ zu „Sara“? Hat es Abraham überhaupt gegeben? Wie verhält es sich mit dem hohen Alter der Akteure? Wann ist der Text entstanden? Usw. Ich nehme den Text so, wie wir ihn gehört haben.

Wenn im Alten Orient eine Ehefrau keine Kinder bekommen konnte, war es, um doch einen Nachfolger zu zeugen, dem Mann durchaus erlaubt, dafür eine Sklavin aus dem Hausstand zu nehmen. So auch im Beziehungsdreieck von Abraham, Sara, seiner Frau, und deren ägyptischer Sklavin Hagar. Mit Erfolg: Hagar wird schwanger.
Ich vermute, dass unsere heutige Einstellung quer steht zu dem orientalischen Brauch. Wenn keine Kinder gezeugt und geboren werden können, dann sollte das Paar sich in sein Schicksal ergeben und kinderlos bleiben. Aber wir wissen auch, dass viele Paare sich sehnsüchtig ein Kind wünschen und mit Hilfe der modernen Medizin versuchen, doch noch zum Erfolg zu kommen.

Wenn man es so sagen will, praktizieren Abraham und Sara etwas Vergleichbares dem, was man heute Leihmutterschaft nennt: Einer anderen Frau wird eine vom Samen des Vaters befruchtete Eizelle eingepflanzt und diese bringt das Kind zur Welt. Die Leihmutterschaft ist in Deutschland verboten, in anderen Ländern erlaubt. Es ergeben sich schwierige ethische und rechtliche Fragen.

Ich kenne eine nun in Schleswig-Holstein lebende Familie aus einem anderen Land, wo die Leihmutterschaft erlaubt ist. Die Frau hatte mehrere Fehlgeburten, andere versuchte Methoden führten nicht zur Empfängnis. Schließlich hat sich das Paar entschlossen, sich Leihmütter zu suchen (und zu bezahlen). Das Ergebnis: Zwei entzückende Mädchen, die obendrein von verschiedenen Leihmüttern am selben Tag zur Welt gebracht wurden! Die beiden sind also keine Zwillinge im engeren Sinn.

Zurück zum Bibeltext. Was im Dreieck Abraham, Sara und Hagar zeitbedingt so erfolgreich begann, entwickelt sich alsbald zu einer Beziehungskrise zwischen den beiden Frauen, bei der Abraham eher schwach dasteht. Die werdende Mutter Hagar beginnt, sich zu emanzipieren und blickt hochmütig auf Sara herab. Das kann Sara nicht ertragen. Daraufhin flieht Hagar in die Wüste. Ist es Saras Eifersucht? Ist es das Trauma der eigenen Mutterlosigkeit? Jedenfalls muss sich die Situation so zugespitzt haben, dass mit der Flucht Hagars die damaligen Rechtsgepflogenheiten außer Kraft gesetzt werden und persönliche, allzu menschliche Motive die Oberhand gewinnen.

Was im Text aber jetzt berichtet wird, ist eine unglaubliche Aufwertung Hagars: Sie gewinnt durch die Begegnung mit dem Engel ihr Menschsein und ihre Mündigkeit zurück. Der Bote Gottes proklamiert das Recht der Leihmutter auf ihr Kind. Der Sohn, den sie bekommen wird, wird nicht in Saras Genealogie eingebaut. Sondern unabhängig bleiben und viele Nachkommen haben. Sara wird zur Matriarchin einer großen Nation. Wie nur ganz wenigen biblischen Gestalten wird Hagars Kind schon im Mutterleib von Gott mit Namen genannt: Ismael, das heißt „Gott erhört“. Und Hagar wird ermächtigt, den Namen Gottes zu artikulieren, so wie sie ihn in der Wüste erfahren hat: „Du bist ein Gott, der mich sieht“ (wir erinnern uns an die Jahreslosung für 2023). Eine Frau, eine Sklavin, eine Fremde tut etwas, was sonst in der Bibel nicht geschieht: Gott mit einem Namen benennen.

Hagar kehrt zu Abraham zurück und bringt, nach damaligem Brauch wohl auf dem Schoß Saras liegend, Ismael zur Welt.

Und Sara, was „Fürstin, vornehme Frau“ bedeutet? Dem 100jährigen Abraham und der schon 90jährigen Sara wird auch ein Sohn prophezeit und dieser schließlich geboren: Es ist Isaak, der dann eine eigene Linie begründet.

Wie hat das Neue Testament die Sara/Hagar-Episode aufgenommen? Herausragend ist hier, was Paulus im Brief an die Gemeinden in Galatien formuliert, ich zitiere: „Es steht geschrieben, dass Abraham zwei Söhne hatte, einen von der Sklavin und einen von der Freien; der von der Sklavin jedoch wurde aufgrund natürlicher Zeugung geboren, der von der Freien aber durch eine Verheißung. Das ist bildlich zu verstehen; denn diese Frauen bedeuten zwei Gottesordnungen: Die eine ist vom Berg Sinai und bringt Sklaverei hervor, für sie steht Hagar.“ Sara wird mit Namen gar nicht erwähnt, aber sonst ist für Paulus klar: Sara ist gleich Freiheit, Hagar ist gleich Sklaverei.
Wie immer bei Paulus muss man genau hinsehen, in welchem Kontext dieser argumentiert. Missionare waren in Galatien eingetroffen und propagierten ein Christentum mit jüdischen Riten. Dagegen wettert Paulus und ist dabei nicht zimperlich. Allerdings ist die Wirkungsgeschichte des „Kirchenvaters“ Paulus, dessen Ausführungen alsbald dogmatischen Charakter bekamen, auch in diesem Fall verheerend: Sklavenstatus hat die Synagoge der Juden, diese wird als blind oder mit einer Augenbinde dargestellt – und später von den Christen verfolgt.

Mag auch sein, dass der Text 1. Mose 16 früher nicht gepredigt wurde, weil ein wohl falsches Paulus-Verständnis vor allem in den lutherischen Kirchen dies nahelegte.

Noch einmal der Blick zurück in das Alte Testament. Hagar wird Matriarchin einer großen Nation. Denn ihr Sohn Ismael wird Urvater des 12-Stämme-Volks der arabischen Ismaeliten. So wie Isaak über die Jakobslinie in die Bildung der 12 Stämme Israels einmündet. Es ist also eine auffällige Parallelität festzustellen zwischen den Kindern und Nachkommen Saras und Hagars. Dies greift der Koran auf, denn in ihm erscheint Ismael gemeinsam mit seinem Vater Abraham, dem ersten Muslim, bei der Grundsteinlegung des Heiligtums der Kaaba in Mekka. Hagar wird so zur Stammmutter des Islam. Zwar wird ihr Name im Koran nicht erwähnt, dennoch spielt sie in der islamischen Tradition eine geachtete Rolle.

Judentum, Christentum und Islam werden oft auch als die abrahamitischen Religionen bezeichnet. Dahinter steht die Hoffnung, dass sie sich auf dieser Basis zu gegenseitigem Respekt und zur Versöhnung verstehen. Das hat es manchmal in der Geschichte gegeben, in der Gegenwart sieht zumindest zwischen Judentum und Islam finster aus.

Aber an dieser Stelle will ich folgende schöne Episode bringen: In unserem Nachbarhaus wohnt seit einigen Jahren eine fünfköpfige afghanische Familie, mit der meine Frau und ich lebhaften und herzlichen Kontakt haben. Jüngstes Kind ist ein Mädchen, schon in Lübeck geboren und zurzeit in der 1. Schulklasse. Dieser liebe Mensch mit dem Namen Zahra (hat aber wohl nichts mit dem arabischen Sara zu tun) geht seit einiger Zeit in den Kinderchor der uns gegenüberliegenden evangelischen St. Lorenz-Kirche. Der soll demnächst im Mai in einem Gottesdienst mitwirken. Zahra teilte uns mit: Meine Eltern haben erlaubt, dass ich da mitsinge – aber beten soll ich dort nicht!

Ich beende meinen theologischen Vortrag, der keine erbauliche Predigt geworden ist, zunächst mit Sätzen aus der Auslegung der Theologin Heidemarie Salevsky zu 1. Mose 16 und speziell zu Hagar:

„Hagars Theologie wird … zu einer bleibenden Herausforderung für uns. Diese Geschichte steht für das Verbot, Verschiedenheit und Anderssein in den Kategorien von Herrschaft und Unterwerfung zu definieren. Wo immer dies geschieht, wird der Name des Einen Gottes missbraucht: des Gottes, der sich als Sehender offenbart, wo wir unseren blinden Fleck haben - der ausgerechnet einer Fremden, Geknechteten das Geheimnis seines unaussprechlichen Namens kundtut und damit unsere herrische Art, Gott und die Welt vorrangig aus der Perspektive unseres Eigeninteresses zu betrachten, grundsätzlich in Frage stellt.“

Ein erschreckendes Beispiel für die herrische Art, Gott und die Welt vorrangig aus der Perspektive des Eigeninteresses zu betrachten, sehe ich in der Einstellung der russischen orthodoxen Kirche und speziell ihres Patriarchen Kyrill zum Ukraine-Krieg. Nach dem Angriff auf die Ukraine 2022 hatte Kyrill zunächst noch erklärt, die Kirche respektiere die Grenzen und die Souveränität der Staaten. Jetzt, zwei Jahre später, ist davon keine Rede mehr. Der russische Bombenterror wird nunmehr von Kyrill und der russisch-orthodoxen Kirche als spiritueller und moralischer „Heiliger Krieg“ bezeichnet, der dem göttlichen Heilsplan entspreche.

„Heilige Kriege“ haben in der Geschichte nie zu etwas Gutem geführt, sie dienten und dienen der Verbrämung der politischen Macht und sind mit dem Evangelium unvereinbar. Die im „Weltkirchenrat“ zusammengeschlossenen christlichen Konfessionen haben sich trotz eines Antrags der Synode der Evangelisch-Reformierten Kirche der Schweiz, die russisch-orthodoxe Kirche aus dem Weltkirchenrat auszuschließen, nicht dazu entschließen können und halten an der Einheit der christlichen Kirchen fest.

Wie sagte doch Jesus im Evangeliumstext bei Johannes, wo er von sich als dem guten Hirten spricht? „Ich habe auch noch andere Schafe, die nicht aus diesem Gehege stammen…“

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