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Jörg Scholz

Predigt am 14. April 2024 in der Reformierten Kirche über 1. Mose 16

Ich habe mich für die Predigt heute für einen Text entschieden, der erst durch die Überarbeitung 2018 in die Leseordnungen vieler evangelischer Kirchen aufgenommen wurde:

Sarai, Abrams Frau, gebar ihm kein Kind. Sie hatte aber eine ägyptische Sklavin, die hieß Hagar. Und Sarai sprach zu Abram: „Siehe, Gott hat mich verschlossen, dass ich nicht gebären kann. Geh doch zu meiner Sklavin, ob ich vielleicht durch sie zu einem Sohn komme.“ Und Abram gehorchte der Stimme Sarais. Da nahm Sarai, Abrams Frau, ihre ägyptische Sklavin Hagar und gab sie Abram, ihrem Mann, zur Frau, nachdem Abram zehn Jahre im Lande Kanaan gewohnt hatte. Und er ging zu Hagar, die wurde schwanger. Als sie nun sah, dass sie schwanger war, achtete sie ihre Herrin gering. Da sprach Sarai zu Abram: „Das Unrecht, das mir geschieht, komme über dich! Ich habe meine Sklavin dir in die Arme gegeben; nun sie aber sieht, dass sie schwanger geworden ist, bin ich gering geachtet in ihren Augen. Gott sei Richter zwischen mir und dir.“ Abram aber sprach zu Sarai: „Siehe, deine Sklavin ist unter deiner Gewalt; tu mit ihr, wie dir's gefällt.“ Da demütigte Sarai sie, sodass sie vor ihr floh. Aber der Engel Gottes fand sie bei einer Wasserquelle in der Wüste, nämlich bei der Quelle am Wege nach Schur. Der sprach zu ihr: „Hagar, Sarais Sklavin, wo kommst du her und wo willst du hin?“ Sie sprach: „Ich bin von Sarai, meiner Herrin, geflohen.“ Und der Engel Gottes sprach zu ihr: „Kehre wieder um zu deiner Herrin und demütige dich unter ihre Hand.“ Und der Engel Gottes sprach zu ihr: „Ich will deine Nachkommen so mehren, dass sie der großen Menge wegen nicht gezählt werden können.“ Weiter sprach der Engel Gottes zu ihr: „Siehe, du bist schwanger geworden und wirst einen Sohn gebären, dessen Namen sollst du Ismael nennen; denn Gott hat dein Elend erhört. Er wird ein Mann wie ein Wildesel sein; seine Hand wider jedermann und jedermanns Hand wider ihn, und er wird sich all seinen Brüdern vor die Nase setzen.“ Und sie nannte den Namen Gottes, der mit ihr redete: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Denn sie sprach: „Gewiss habe ich hier hinter dem hergesehen, der mich angesehen hat.“ Darum nannte man den Brunnen: Brunnen des Lebendigen, der mich sieht. Er liegt zwischen Kadesch und Bered. Und Hagar gebar Abram einen Sohn, und Abram nannte den Sohn, den ihm Hagar gebar, Ismael. Und Abram war sechsundachtzig Jahre alt, als ihm Hagar den Ismael gebar.

Ich will die schwierigen historisch-kritischen Fragen nur andeuten – ein Versuch ihrer Beantwortung würde zu weit führen. Wie erklärt sich etwa der Namenswechsel von „Abram“ zu dem uns vertrauten „Abraham“? Wie erklärt sich der Wechsel von „Sarai“ zu „Sara“? Hat es Abraham überhaupt gegeben? Wie verhält es sich mit dem hohen Alter der Akteure? Wann ist der Text entstanden? Usw. Ich nehme den Text so, wie wir ihn gehört haben.

Wenn im Alten Orient eine Ehefrau keine Kinder bekommen konnte, war es, um doch einen Nachfolger zu zeugen, dem Mann durchaus erlaubt, dafür eine Sklavin aus dem Hausstand zu nehmen. So auch im Beziehungsdreieck von Abraham, Sara, seiner Frau, und deren ägyptischer Sklavin Hagar. Mit Erfolg: Hagar wird schwanger.
Ich vermute, dass unsere heutige Einstellung quer steht zu dem orientalischen Brauch. Wenn keine Kinder gezeugt und geboren werden können, dann sollte das Paar sich in sein Schicksal ergeben und kinderlos bleiben. Aber wir wissen auch, dass viele Paare sich sehnsüchtig ein Kind wünschen und mit Hilfe der modernen Medizin versuchen, doch noch zum Erfolg zu kommen.

Wenn man es so sagen will, praktizieren Abraham und Sara etwas Vergleichbares dem, was man heute Leihmutterschaft nennt: Einer anderen Frau wird eine vom Samen des Vaters befruchtete Eizelle eingepflanzt und diese bringt das Kind zur Welt. Die Leihmutterschaft ist in Deutschland verboten, in anderen Ländern erlaubt. Es ergeben sich schwierige ethische und rechtliche Fragen.

Ich kenne eine nun in Schleswig-Holstein lebende Familie aus einem anderen Land, wo die Leihmutterschaft erlaubt ist. Die Frau hatte mehrere Fehlgeburten, andere versuchte Methoden führten nicht zur Empfängnis. Schließlich hat sich das Paar entschlossen, sich Leihmütter zu suchen (und zu bezahlen). Das Ergebnis: Zwei entzückende Mädchen, die obendrein von verschiedenen Leihmüttern am selben Tag zur Welt gebracht wurden! Die beiden sind also keine Zwillinge im engeren Sinn.

Zurück zum Bibeltext. Was im Dreieck Abraham, Sara und Hagar zeitbedingt so erfolgreich begann, entwickelt sich alsbald zu einer Beziehungskrise zwischen den beiden Frauen, bei der Abraham eher schwach dasteht. Die werdende Mutter Hagar beginnt, sich zu emanzipieren und blickt hochmütig auf Sara herab. Das kann Sara nicht ertragen. Daraufhin flieht Hagar in die Wüste. Ist es Saras Eifersucht? Ist es das Trauma der eigenen Mutterlosigkeit? Jedenfalls muss sich die Situation so zugespitzt haben, dass mit der Flucht Hagars die damaligen Rechtsgepflogenheiten außer Kraft gesetzt werden und persönliche, allzu menschliche Motive die Oberhand gewinnen.

Was im Text aber jetzt berichtet wird, ist eine unglaubliche Aufwertung Hagars: Sie gewinnt durch die Begegnung mit dem Engel ihr Menschsein und ihre Mündigkeit zurück. Der Bote Gottes proklamiert das Recht der Leihmutter auf ihr Kind. Der Sohn, den sie bekommen wird, wird nicht in Saras Genealogie eingebaut. Sondern unabhängig bleiben und viele Nachkommen haben. Sara wird zur Matriarchin einer großen Nation. Wie nur ganz wenigen biblischen Gestalten wird Hagars Kind schon im Mutterleib von Gott mit Namen genannt: Ismael, das heißt „Gott erhört“. Und Hagar wird ermächtigt, den Namen Gottes zu artikulieren, so wie sie ihn in der Wüste erfahren hat: „Du bist ein Gott, der mich sieht“ (wir erinnern uns an die Jahreslosung für 2023). Eine Frau, eine Sklavin, eine Fremde tut etwas, was sonst in der Bibel nicht geschieht: Gott mit einem Namen benennen.

Hagar kehrt zu Abraham zurück und bringt, nach damaligem Brauch wohl auf dem Schoß Saras liegend, Ismael zur Welt.

Und Sara, was „Fürstin, vornehme Frau“ bedeutet? Dem 100jährigen Abraham und der schon 90jährigen Sara wird auch ein Sohn prophezeit und dieser schließlich geboren: Es ist Isaak, der dann eine eigene Linie begründet.

Wie hat das Neue Testament die Sara/Hagar-Episode aufgenommen? Herausragend ist hier, was Paulus im Brief an die Gemeinden in Galatien formuliert, ich zitiere: „Es steht geschrieben, dass Abraham zwei Söhne hatte, einen von der Sklavin und einen von der Freien; der von der Sklavin jedoch wurde aufgrund natürlicher Zeugung geboren, der von der Freien aber durch eine Verheißung. Das ist bildlich zu verstehen; denn diese Frauen bedeuten zwei Gottesordnungen: Die eine ist vom Berg Sinai und bringt Sklaverei hervor, für sie steht Hagar.“ Sara wird mit Namen gar nicht erwähnt, aber sonst ist für Paulus klar: Sara ist gleich Freiheit, Hagar ist gleich Sklaverei.
Wie immer bei Paulus muss man genau hinsehen, in welchem Kontext dieser argumentiert. Missionare waren in Galatien eingetroffen und propagierten ein Christentum mit jüdischen Riten. Dagegen wettert Paulus und ist dabei nicht zimperlich. Allerdings ist die Wirkungsgeschichte des „Kirchenvaters“ Paulus, dessen Ausführungen alsbald dogmatischen Charakter bekamen, auch in diesem Fall verheerend: Sklavenstatus hat die Synagoge der Juden, diese wird als blind oder mit einer Augenbinde dargestellt – und später von den Christen verfolgt.

Mag auch sein, dass der Text 1. Mose 16 früher nicht gepredigt wurde, weil ein wohl falsches Paulus-Verständnis vor allem in den lutherischen Kirchen dies nahelegte.

Noch einmal der Blick zurück in das Alte Testament. Hagar wird Matriarchin einer großen Nation. Denn ihr Sohn Ismael wird Urvater des 12-Stämme-Volks der arabischen Ismaeliten. So wie Isaak über die Jakobslinie in die Bildung der 12 Stämme Israels einmündet. Es ist also eine auffällige Parallelität festzustellen zwischen den Kindern und Nachkommen Saras und Hagars. Dies greift der Koran auf, denn in ihm erscheint Ismael gemeinsam mit seinem Vater Abraham, dem ersten Muslim, bei der Grundsteinlegung des Heiligtums der Kaaba in Mekka. Hagar wird so zur Stammmutter des Islam. Zwar wird ihr Name im Koran nicht erwähnt, dennoch spielt sie in der islamischen Tradition eine geachtete Rolle.

Judentum, Christentum und Islam werden oft auch als die abrahamitischen Religionen bezeichnet. Dahinter steht die Hoffnung, dass sie sich auf dieser Basis zu gegenseitigem Respekt und zur Versöhnung verstehen. Das hat es manchmal in der Geschichte gegeben, in der Gegenwart sieht zumindest zwischen Judentum und Islam finster aus.

Aber an dieser Stelle will ich folgende schöne Episode bringen: In unserem Nachbarhaus wohnt seit einigen Jahren eine fünfköpfige afghanische Familie, mit der meine Frau und ich lebhaften und herzlichen Kontakt haben. Jüngstes Kind ist ein Mädchen, schon in Lübeck geboren und zurzeit in der 1. Schulklasse. Dieser liebe Mensch mit dem Namen Zahra (hat aber wohl nichts mit dem arabischen Sara zu tun) geht seit einiger Zeit in den Kinderchor der uns gegenüberliegenden evangelischen St. Lorenz-Kirche. Der soll demnächst im Mai in einem Gottesdienst mitwirken. Zahra teilte uns mit: Meine Eltern haben erlaubt, dass ich da mitsinge – aber beten soll ich dort nicht!

Ich beende meinen theologischen Vortrag, der keine erbauliche Predigt geworden ist, zunächst mit Sätzen aus der Auslegung der Theologin Heidemarie Salevsky zu 1. Mose 16 und speziell zu Hagar:

„Hagars Theologie wird … zu einer bleibenden Herausforderung für uns. Diese Geschichte steht für das Verbot, Verschiedenheit und Anderssein in den Kategorien von Herrschaft und Unterwerfung zu definieren. Wo immer dies geschieht, wird der Name des Einen Gottes missbraucht: des Gottes, der sich als Sehender offenbart, wo wir unseren blinden Fleck haben - der ausgerechnet einer Fremden, Geknechteten das Geheimnis seines unaussprechlichen Namens kundtut und damit unsere herrische Art, Gott und die Welt vorrangig aus der Perspektive unseres Eigeninteresses zu betrachten, grundsätzlich in Frage stellt.“

Ein erschreckendes Beispiel für die herrische Art, Gott und die Welt vorrangig aus der Perspektive des Eigeninteresses zu betrachten, sehe ich in der Einstellung der russischen orthodoxen Kirche und speziell ihres Patriarchen Kyrill zum Ukraine-Krieg. Nach dem Angriff auf die Ukraine 2022 hatte Kyrill zunächst noch erklärt, die Kirche respektiere die Grenzen und die Souveränität der Staaten. Jetzt, zwei Jahre später, ist davon keine Rede mehr. Der russische Bombenterror wird nunmehr von Kyrill und der russisch-orthodoxen Kirche als spiritueller und moralischer „Heiliger Krieg“ bezeichnet, der dem göttlichen Heilsplan entspreche.

„Heilige Kriege“ haben in der Geschichte nie zu etwas Gutem geführt, sie dienten und dienen der Verbrämung der politischen Macht und sind mit dem Evangelium unvereinbar. Die im „Weltkirchenrat“ zusammengeschlossenen christlichen Konfessionen haben sich trotz eines Antrags der Synode der Evangelisch-Reformierten Kirche der Schweiz, die russisch-orthodoxe Kirche aus dem Weltkirchenrat auszuschließen, nicht dazu entschließen können und halten an der Einheit der christlichen Kirchen fest.

Wie sagte doch Jesus im Evangeliumstext bei Johannes, wo er von sich als dem guten Hirten spricht? „Ich habe auch noch andere Schafe, die nicht aus diesem Gehege stammen…“

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Predigt am Ostersonntag 2024 in der Versöhnungskirche Travemünde

Drei Texte haben wir gehört: Den Lobgesang der Hannah aus dem Alten Testament (1. Samuel 2, 1-2, 6-8a), den Abschluss des Markusevangeliums (Markus 16, 1-8) und eben die Kantate von Telemann (TVWV 1: 877) mit dem Libretto des seinerzeit sehr bekannten Barockdichters Erdmann Neumeister. Was verbindet diese drei Texte miteinander? Schauen wir genauer hin: Hannah, eben noch kinderlos, dann aber mit einem Sohn gesegnet, singt daraufhin mit fast zeitlosen Worten ein Loblied auf Gott: „Mein Herz ist fröhlich in Gott, mein Haupt ist erhöht in Gott.“ Das Markusevangelium beschreibt in fast nüchtern zu nennender Weise den Ostermorgen mit der Botschaft des jungen Mannes in weißem Gewand, den wir uns als Engel denken mögen: „Erschreckt nicht! Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten, sucht ihr! Er ist auferweckt worden, er ist nicht hier.“ Und Neumeister verbindet in überbordender barocker Sprache das Ostergeschehen mit einem „Ich“: „Er aber lebt, so muß ich auch durch ihn zum Leben auferstehn und in sein Reich der Ruh und Ehre ziehn.“

Ich würde sagen: Alle drei Quellen sprechen von Aufbruch, Veränderung, Neuanfang. An diesem Ostersonntag steht für uns Christinnen und Christen die Botschaft des Markus-Evangeliums im Vordergrund. „Er ist auferweckt worden.“ Was war geschehen? Jesus von Nazareth war von den Römern und der jüdischen Tempelaristokratie als Verbrecher verurteilt worden und am Kreuz gestorben. Nur Frauen waren ihm treu geblieben, die Jünger waren geflohen. Und Frauen sind es, die sein Grab besuchen. Wie ist es dann weitergegangen? Wir wissen es und feiern es heute: Es gibt einen Neuanfang der Geschichte des Jesus, der nun zum Christus wird. „Er ist auferweckt worden“. Mit dieser Passivform wird ausgedrückt, dass Gott an ihm gehandelt hat. Vielleicht haben wir ja immer noch die Vorstellung, die mit dem Wort „Auferstehung“ anklingt, das Subjekt Jesus sei auferstanden. Nein, Gott ist es, der an ihm festhält und ihm neues Leben gibt.

Ich denke nicht, dass die Jüngerinnen und Jünger Jesu nach der Katastrophe der Kreuzigung sich irgendwo in Jerusalem zusammengesetzt und unter Vorsitz des Petrus diskutiert haben, wie es denn nun weitergehen könnte. Die Texte der Evangelien und vor allem des Paulus im 1. Brief an die Gemeinde in Korinth lassen etwas anderes plausibel erscheinen: Der Eindruck, den der besondere Mensch Jesus hinterlassen hat, war so gewaltig, dass seine Anhänger ihn in Visionen schauten und sicher wurden, dass er weiter unter ihnen ist. Was dann geschah, habe ich einmal so umschrieben: Von der Depression des Karfreitags zur Mission. Jesus wird von nun an als der Christus, der Messias, verstanden; und die eben noch verzagten und verzweifelten Anhänger werden seine Nachfolger und verkünden einen Wendepunkt in der Geschichte Gottes mit den Menschen. Es ist ein ungeheurer, ein wagemutiger Aufbruch, die Botschaft von Christus verändert das Leben vieler.

Noch eine Anmerkung zu der Auferstehung am 3. Tag. Wir sehen es so und lassen es ja auch dieses Jahr wieder aufleben: der 1. Tag ist der der Kreuzigung, dem folgt der Karsamstag, wo Jesus ins Totenreich hinabsteigt, und am 3. Tag geschieht die Auferweckung, unser Osterfest. Es gibt die berechtigte Frage, ob diese chronologische Zählung die ursprüngliche ist. „Am 3. Tag“ ist eine im Alten Testament häufiger auftauchende Formulierung, die häufig symbolisch zu verstehen ist, aber immer Gottes schöpferisches Handeln in der Zukunft meint. Erst später wurde es als konkrete Zeitangabe verstanden und prägt den Rhythmus der Ostertage bis heute.

Und noch eine Anmerkung: War das Grab wirklich leer? Was ist dann mit dem Leichnam Jesu geschehen? Ich verstehe die Redeweise vom leeren Grab ebenfalls symbolisch: Das Grab, das die geschaufelt haben, die Jesus kreuzigten, ist leer, nichtig, bedeutungslos. Gott hat ihn zu einer neuen Existenz erhoben.

Kommen wir noch einmal auf die Erfahrung des lebenden Christus zu sprechen, die alles verändert hat. Dieser Umbruch hat dann vielfache Deutungen von Kreuz und Auferstehung nach sich gezogen. Dabei spielen Rückgriffe auf die hebräische Bibel, unser Altes Testament, eine wichtige Rolle (wie auch heute in diesem Gottesdienst). Viele Texte des Neuen Testaments, dann aber auch die Theologie des Christentums sind Ausdruck der Deutung des Ostergeschehens. Dazu gehört auch das Glaubensbekenntnis, das wir vorhin gesprochen haben. Ja, man sagen: Bis heute geht der Versuch weiter, das Christusgeschehen zu deuten und auf die jeweilige Zeit zu beziehen. Der Text der Telemann-Kantate gehört genauso dazu wie diese Predigt.

Ich sehe zwei Wege der zeitgemäßen Annäherung. Der eine ist für mich ein denkerischer: Was geschieht eigentlich zwischen Gott und Mensch, wenn wir an Gott glauben – und wie können wir uns das vorstellen? Antwort: Im Strom der Geschichte finden wir im Glauben an Gott etwas Überzeitliches und vertrauen darauf, dass dies unser Leben berührt. Dazu hilft uns der Blick auf das Handeln und Sprechen des historischen Jesus, aber auch die Reflexion der Gegenwart Christi. Letztere geschieht für mich im Ritus des Gottesdienstes, in der Wiederholung der alten Texte, auch der Kirchenlieder, im Abendmahl und im Gebet, in Kunst und Musik.

Aber es geschieht, das ist die andere Annäherung, auch dort, wo wir Auferstehungserfahrungen in unserem Leben machen. Das beliebteste Bild in unseren geografischen Breiten ist das vom Frühlingserwachen. Wir kennen Goethes „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche Durch des Frühlings holden, belebenden Blick; Im Tale grünet Hoffnungsglück; Der alte Winter, in seiner Schwäche, Zog sich in rauhe Berge zurück“. Und später: „Sie feiern die Auferstehung des Herrn, Denn sie sind selber auferstanden.“ Das Frühlingserwachen als Bild für die Auferstehung ist natürlich wunderschön, aber die Menschen auf der südlichen Erdhalbkugel, wo jetzt der Herbst beginnt, können es wohl kaum mit dem kalendarischen Osterfest verbinden.

Greifen wir zu anderen Bildern:
Ein guter Freund ist nach lebensbedrohlicher Krankheit wieder so gesund, dass er sich des Lebens erfreuen kann. Eine brüchige Beziehung zwischen zwei Menschen findet einen Neuanfang. Ein Kirchenasyl für einen Migranten endet mit dem Bleiberecht. Freunde aus Jugendtagen finden sich wieder. Eine Frau trifft nach vielen Jahrzehnten ihre Halbgeschwister und steht seitdem mit diesen in lebhaftem Kontakt. Jede und jeder von uns kann von solchen Umwälzungen zum Guten erzählen. Das ist wunderbar, und manch einer wird sagen: Gott, ich danke Dir! Es sind Bilder von Auferstehungen.

Gibt es neben diesen individuellen Beispielen auch kollektive, gesellschaftliche? Erinnern wir uns an den Jubel, als 1989 die Mauer fiel. An Friedensschlüsse zwischen Kriegsparteien wie zwischen Frankreich und Deutschland. An neues Leben aus den Ruinen. An wiederhergestellte Natur nach Katastrophen. An das Ende der Corona-Einschränkungen. Das zuvor Harte, Schlimme wird abgelöst durch Neues, Besseres, den Menschen Gemäßeres – auch das sind Auferstehungsbilder. Und wir sehnen sie für die Konflikte in unserer Gegenwart herbei. Gott, bitten wir im Namen Jesu Christi: gib, dass Frieden wird.

Mir liegt es fern, uns die Osterfreude zu nehmen. Aber es scheint nicht nur mir so zu gehen: Der Blick auf die Welt stimmt pessimistisch. Immer mehr Länder der Welt werden autoritär regiert; die Menschenrechte werden eingeschränkt und die Kluft zwischen arm und reich wird größer. Der jetzt 94jährige Philosoph Jürgen Habermas sah sich zeitlebens als ein Weltbürger und wünschte, viele würden diese Sicht teilen: Weltbürger sein. Weil es nun einmal nur eine Erde gibt, die wir uns nicht geschaffen haben. Die letzten Äußerungen dieses klugen Menschen klingen fast verzweifelt. „All das, was sein Leben ausgemacht habe, gehe gegenwärtig ,Schritt für Schritt' verloren.“

Ich vermute, viele unter uns werden diese Skepsis teilen. Aber wenn wir vom Osterglauben erfüllt sind, wollen wir doch an den Auferstehungsbildern festhalten und sehen, wo wir Schritte auf sie hin tun können: persönlich, kirchlich, politisch, gesellschaftlich. Vielleicht waren die Demonstrationen der letzten Wochen ein kleiner Ausdruck davon. Ich möchte an der Vorstellung einer menschlicheren und gerechteren Welt festhalten und an der Versöhnung mit der geschundenen Natur.

Im Mittelalter gab es zu Ostern die Sitte des „Osterlachens“. Die Priester erzählten Witze, die Gemeinde antwortete mit einem befreienden Lachen. Da diese Sitte in den Augen der Kirche zur Unsitte wurde, hat man sie schließlich verboten. Ich versuche es aber trotzdem, uns auch heute zum Lachen oder zumindest Lächeln zu bringen. Und zwar zunächst mit Sätzen des 2019 gestorbenen Schriftstellers Günter Kunert, die so gehen:
„Der alte Mann fragt Gott: Wie werde ich wieder jung?
Gott denkt lange nach, bis er antwortet: Du musst dich verwandeln.
Der alte Mann schöpft Hoffnung: Wie das?
Gott: Stirb und werde vorerst eine Made – dann wollen wir weitersehen.“

Manch einem von uns wird dazu vielleicht das köstliche Gedicht über die Made von Heinz Erhardt eingefallen sein, hier dessen Anfang:
„Hinter eines Baumes Rinde
wohnt die Made mit dem Kinde.
Sie ist Witwe, denn der Gatte,
den sie hatte, fiel vom Blatte.
Diente so auf diese Weise
einer Ameise als Speise.“

Ich beende dieses Gedicht heute so:
„Witwe Made lebt jetzt gerade
in dem Glas von Marmelade;
das ist gut für Mama Made,
aber für die Marmelade schade.“

Das Leben ist immer auch zweideutig; ein Thema, das den großen Theologen Paul Tillich im vorigen Jahrhundert sehr beschäftigt hat. Leider ist Tillich heute so gut wie vergessen…

Aber um uns noch einmal österlich zu stärken, zitiere ich Worte eines politischen Journalisten, geschrieben vor ein paar Tagen (Kurt Kister, Süddeutsche Zeitung):
„Es gibt sehr viele Menschen, die nicht aufgeben und die, wie man so schön sagt, das Beste auch aus Situationen machen wollen, die nicht gut sind. Solche, die andere pflegen und sich selbst dabei manchmal so zurücknehmen, dass ihnen nicht viel an eigenem Leben bleibt, weil das andere Leben so fordernd ist. Solche, die ihre Sucht überwinden und doch fürchten, sie könnten irgendwann einmal wieder rückfällig werden. Solche, die sich für andere engagieren, in Nachbarschaftsinitiativen, als Integrationshelferinnen, als Vorleser im Hospiz. Aber eben auch solche, die sich nicht unterkriegen lassen wollen von den Folgen eines Schlaganfalls, von MS oder von einer kaputten Niere. Manchmal ist man zu schwach, um stark genug zu sein. Manchmal aber schafft man es ...“