Predigt am 5. Januar 2025 in der Versöhnungskirche über Lukas 2, 41 – 52
Die Älteren unter uns werden sich vielleicht noch an eine beliebte Fernsehsendung erinnern, die den Titel trug: „Das ist Ihr Leben“. Ausgestrahlt wurde sie in den siebziger und neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Im Mittelpunkt standen prominente Menschen. Plötzlich tauchten Zeugen aus deren Leben auf und erzählten von früheren Begegnungen. In einer Art Nachruf zu Lebzeiten wurden vergangene Episoden noch einmal lebendig.
Zum Beginn des neuen Jahres ist es aber vielleicht auch für Sie ein interessantes Experiment: Fragen Sie sich, wer aus Ihrer Vergangenheit noch einmal erscheinen möge! Menschen aus der Schulzeit vielleicht oder der Studentenzeit, Kolleginnen und Kollegen aus dem Berufsleben; Menschen, zu denen der Kontakt abgebrochen ist. Frühere Zeitgenossen, die man damals als interessant und vielleicht auch wichtig erlebt hat. Ich könnte in meinem Fall einige nennen.
Jesus von Nazareth, den wir den Christus nennen, ist die Schlüsselfigur unseres Glaubens. Stellen wir uns vor, wir lebten im Jahr 30 unserer Zeitrechnung und sehen eine Sendung mit ihm. Personen aus seiner Umgebung erscheinen und schildern, wie sie ihn erlebt haben. Ich würde gerne Maria Magdalena hören, seine Mutter Maria, Judas Ischarioth und andere. Man könnte ein fiktives Theaterstück dazu schreiben; das biblische Material reicht dazu nicht aus. Interessanterweise hilft uns auch Paulus, dessen Schriften zeitlich am dichtesten an die Jesuszeit heranreichen, nicht weiter. Er hat Jesus persönlich nicht kennengelernt und beschäftigt sich nicht mit Einzelheiten seines Lebens.
Wenn wir uns trotzdem fragen: „Wie war Ihr Leben, Herr Jesus?“, fallen uns natürlich die vier Evangelien des Neuen Testaments ein. Sie erwecken doch manchmal den Eindruck, so etwas wie Biographien Jesu zu sein. Aber schnell müssen wir nüchtern feststellen: Es sind keine Augenzeugenberichte, sondern aus einem Abstand von 40 – 60 Jahren zum historischen Jesus geschrieben worden. Wir haben keine Dokumentation eines Reporters aus den Tagen von Jesus, der notiert hätte, was er sah und hörte. Theologen haben darum den Jesus der Evangelien als „erinnerten Jesus“ charakterisiert. Dahinter steckt die Vermutung, dass zunächst mündlich weitergegeben wurde, was man von Jesus wusste. Bis es schließlich in den Evangelien schriftlich fixiert wurde. Die Kultur des Orients war (und ist manchmal auch noch) eine Erzählkultur, und wir wissen alle, wie sich in den Erzählungen die ursprünglichen Informationen verändern.
Im Blick auf den historischen Jesus gibt es noch einen auffälligen Befund, den die Evangelien dokumentieren: Es wird fast nur das weitererzählt, was von Jesu öffentlichem Auftreten im Alter von etwa 30 Jahren bis zu seiner Kreuzigung bekannt war. Das umfasst einen Zeitraum von vielleicht 1 bis 3 Jahren. Über Jesu Leben davor schweigen die Evangelien von Markus und Johannes fast völlig, erwähnen nur seinen Heimatort Nazareth, und dass er wohl aus einer jüdischen Großfamilie stammte. Matthäus und Lukas füllen die lange Lebenslücke mit einigen Geschichten aus, die fest zu unserem Glaubensgut gehören: Ich nenne nur die Weihnachtsgeschichte des Lukas. „Es begab sich aber zu der Zeit…“
Dazu gehört auch der Text, dem man die Überschrift „Der 12jährige Jesus im Tempel“ gegeben hat und den wir vorhin als Evangelium gehört haben. Einige Passagen darin klingen tatsächlich wie eine Reportage: Die jährliche Wanderung von Jesu Eltern (der Name Joseph des Vaters wird nicht erwähnt) zum Passahfest nach Jerusalem, dabei der 12jährige Jesus. Als die Eltern schon auf dem Rückweg sind, merken sie, dass er fehlt. Sie vermuten ihn unter den Verwandten in der Pilgerschar und stellen schließlich fest, dass er verschwunden ist. Darum kehren sie schnell nach Jerusalem zurück, um ihn dort zu suchen.
So weit ist es eine Allerweltsgeschichte, in die Eltern unter uns sich gut hineinversetzen können: Plötzlich ist eines der Kinder verschwunden! „Der kleine Noah sucht seine Eltern“, hören wir aus dem Supermarktlautsprecher. Es könnte auch Emilia sein. Ich habe die beiden Namen gewählt, weil sie die Hitliste der beliebtesten Vornamen 2024 anführen. Und will jetzt nicht darüber nachsinnen, was Eltern bewegt, ihr Kind Noah zu nennen…
Jesu Eltern tun nach Lukas das, was leider viele Eltern tun, wenn sie ihr weggelaufenes Kind wiedergefunden haben: Sie machen ihm Vorwürfe! „Als seine Eltern ihn sahen, waren sie fassungslos und seine Mutter sagte zu ihm: Mein Sohn, warum hast du uns das angetan? Siehe, dein Vater und ich haben dich voller Kummer gesucht.“ Aber natürlich können wir uns in die Sorge der Eltern um ihr Kind gut hineinversetzen – auch wenn alles gut ausgeht in Jerusalem.
Die Fortsetzung im Lukasevangelium mag noch so geschehen sein: Der 12jährige hält sich im Tempel auf und hört den Lehrern zu. Jesu nächster Geburtstag war der 13., und mit 13 wird ein jüdischer Junge volljährig und in den Kreis der Männer aufgenommen. So weit eine kleine historisch-plausible Rekonstruktion. Was Lukas dann allerdings schildert, sprengt den geschichtlichen Rahmen: Er stellte den Lehrern im Tempel Fragen und „alle, die ihm zuhörten, staunten über seine Urteilskraft und seine Antworten“. Und an die Eltern gerichtet, fragt Jesus: „Wieso habt ihr nach mir gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich dort sein muss, wo mein Vater ist?“ Aber die Eltern verstanden nicht, was er damit meinte.
Wie gehört, endet die Geschichte damit, dass Jesus mit seinen Eltern herunter nach Nazareth wandert und ihnen gehorsam ist. Und schließlich diese Sätze: „Maria bewahrte alles in ihrem Herzen. Jesus aber wurde klüger und älter und erfreute sich immer mehr des Wohlwollens Gottes und der Menschen.“
Vielleicht ist deutlich geworden, dass ich unterscheide zwischen geschichtlicher Wahrscheinlichkeit und – jetzt kommt ein neuer Gedanke – der späteren Deutung des Geschehenen. Es gibt wohl keinen Zweifel, dass Jesus in Galiläa um das Jahr 30 unserer Zeitrechnung herum gelebt und gewirkt hat. Und dass er ein außergewöhnlicher Mensch gewesen sein muss.
Für den Religionsunterricht habe ich sein Wirken mal mit einer griffigen Formel zu umschreiben versucht: „Heilen – Teilen – Mitteilen“. Jesus hat Menschen wieder gesund gemacht; er hat zu Tischmahlzeiten eingeladen, auch die am Rande der Gesellschaft; und er hat als Bote Gottes in wunderbaren Gleichnissen und markanten Sprüchen mitgeteilt, was er unter dem kommenden Reich Gottes versteht.
Aber spätestens mit seinem gewaltsamen Tod am Kreuz und dem Ostergeschehen haben sich seine Anhänger mit der Frage beschäftigt, was denn dieser Jesus darüber hinaus für sie und – vielleicht – für die ganze Menschheit gewesen ist. Die Texte der Evangelien und der gesamten anderen Literatur des Neuen Testaments sind Ausdruck dieser Deutung – Lukas nimmt sie ganz verhalten bei der Schilderung des 12jährigen Jesus im Tempel auf: Er muss dort sein, wo sein himmlischer Vater ist. Das Alte Testament und teilweise auch die griechische Philosophie wurden für die Versuche, Jesu Deutung zu beschreiben, herangezogen.
Als eindrückliches Beispiel für die Frage der Bedeutung Jesu zitiere ich noch einmal aus der Epistel des heutigen Sonntags aus dem 1. Johannesbrief: „Gott hat uns ewiges Leben gegeben und in seinem Sohn ist dieses Leben da. Wer mit dem Sohn verbunden ist, hat das Leben; wer nicht mit dem Sohn Gottes verbunden ist, hat das Leben nicht.“ Auf eine Kurzformel gebracht: Jesus ist nicht nur die historische Person, sondern auch der Christus, der erwartete, von Gott Gesalbte. Ich erinnere an das vorhin gesprochene Glaubensbekenntnis, auf das ich noch einmal zurückkommen werde.
Vielleicht lässt sich mein bisheriger theologischer Vortrag so zusammenfassen: Wir sind vor die Frage gestellt, ob wir uns mit dem beschäftigen wollen, was von Jesus von Nazareth mit dem Abstand von fast 2000 Jahren zu uns herüberkommt – oder ob uns das anspricht, was gleichsam zeitlos von Christus gesagt wurde und bis heute gesagt wird. Hören Sie bitte meine Antwort: Mich hat die Frage nach dem historischen Jesus ein ganzes Leben lang beschäftigt. So als wünschte ich mir, aus den Quellen zu schöpfen und mich von dem inspirieren zu lassen, was mir da rüber kommt. Leben nach der Bergpredigt, Anstiftung zu tätiger Nächsten- und Fremdenliebe, Denken ohne Vorurteile… Das sind nur einige Stichworte zu den Lebensmodellen, die ich bei Jesus gefunden habe und finde.
Die andere Seite ist schwerer zu fassen, weil sie ein Geschehen zwischen Gott und den Menschen beschreibt, das weniger zum Tun führt als… Ja, wohin eigentlich? Zum Weltganzen, wenn gesagt wird, Christus war schon bei der Schöpfung dabei und wird am Ende der Zeiten wiederkommen. Zum ewigen Drama des Menschseins, wenn gesagt wird, Christus ist erschienen, um uns von unseren Sünden zu befreien. Andere Aussagen dieser Art wären möglich. Wenn wir wollen, können wir uns ihnen denkerisch nähern. Aber wenn wir es wollen, können wir auch das Geheimnis des Glaubens erspüren: In den alten Texten mit poetischer Kraft, die wir nicht gleich verstehen müssen; in der Liturgie des Gottesdienstes, wo wir uns Worten und der Musik öffnen; im Gebet; in der Stille; im Staunen über große Kunst. Auch diese Liste ließe sich erweitern.
Beide Wege, die ich vielleicht etwas plakativ beschrieben habe, sprechen mich an, vielleicht geht es Ihnen ähnlich. Und wenn einer oder eine meint, das Bild des historischen Jesus in den Evangelien reicht mir, ist es gut; und wenn die andere oder der andere meint, die darüber hinausgehenden Weltdeutungen und ihre christologischen Antworten sind notwendig, ist es auch gut. Oder eben auch beides! Bewahren wir uns die Schätze, die uns überliefert worden sind, und freuen wir uns an ihnen!
Dazu noch ein paar Anmerkungen zum Glaubensbekenntnis, das wir vorhin gesprochen haben. Historisch gesehen, ist nur die Passage „gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben“ aussagekräftig; alles andere ist Deutung des Christusgeschehens. Die Frage: Stimmt das denn so?, geht ebenso in die Irre wie die fast verzweifelte: „Bekennen wir nicht dummes Zeug? – um es krass auszudrücken. Ich zitiere ein paar Sätze des Theologen Fulbert Steffensky („Das Haus, das die Träume verwaltet“, 1999):
„Nicht die Bilder einer Sprache sind wörtlich zu nehmen, sondern der Geist, der in diesen Bildern tanzt. … Kann man das, was das Glaubensbekenntnis sagen will, anders als in Bildern sagen? … Wenn also eine Gemeinde das Glaubensbekenntnis spricht, dann weiß sie, was sie spricht, und zugleich geben ihr die Bilder nicht genau vor, was sie zu denken hat. Die Bilder sind ein Raum, den wir betreten, den wir ausschmücken mit unserer Hoffnung…(Die Gemeinde) sagt sich, woher sie kommt, und sie sagt sich, wohin sie geht, wohin sie geht, und was ihre Lebensinteressen sind.“
„Ich glaube an den Heiligen Geist“, haben wir vorhin unter anderem gesprochen.
Ähnliches ließe sich vom Abendmahl sagen, das wir gleich feiern werden: Erinnerung an Jesu letztes Mahl, Zeichen der Verbundenheit zwischen den Feiernden. „Im Abendmahl grüßt der auferstandene Christus seine Gemeinde“, hat einer meiner theologischen Lehrer geschrieben…
Das war, liebe Gemeinde, keine leichte Kost. Und deshalb rufe ich uns mit Paulus noch einmal die leicht zu merkende Jahreslosung zu: „Prüft alles – und das Gute behaltet.“(Brief nach Philippi)
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Predigt am 3. November 2024 in der Versöhnungskirche Travemünde
Den heutigen 23. Sonntag nach Trinitatis gibt es nur, wenn Ostern vor dem 3. April liegt. In diesem Jahr war Ostern am 31. März. Und der Osterfesttermin ist ja nun mal bekanntlich am 1. Sonntag nach dem Frühjahrsvollmond. Das haben für die westlichen Kirchen Konzilien und Päpste festgelegt. Sie folgten damit dem jüdischen Mondkalender.
Warum erzähle ich Ihnen das? Nun, davon ist abhängig, welche Texte in unseren Predigtreihen nur am seltenen 23. Sonntag nach Trinitatis auftauchen. Und darunter ist ein Ausschnitt aus dem Neuen Testament, der, auch wenn er nur ab und zu im Gottesdienst gelesen wird, eine gewaltige Wirkungsgeschichte gehabt hat. Er stammt vom Apostel Paulus und ist der Anfang des 13. Kapitels des Briefes an die Gemeinde in Rom.
Das schreibt Paulus:
Jeder Mensch soll sich den Gewalten unterordnen, die über ihn gesetzt sind! So gibt es keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott kommt, und den jeweiligen Amtsträgern hat Gott ihren Platz zugewiesen. Wer sich also der staatlichen Macht widersetzt, widersetzt sich der Anordnung Gottes; und wer das tut, wird sich sein Urteil selbst zuziehen. Denn das Tun des Guten braucht die Regierenden nicht zu fürchten, sondern das des Bösen. Du willst dich vor der staatlichen Macht nicht fürchten müssen? Dann tue das Gute, und du wirst Anerkennung bei ihr finden; sie ist ja Gottes Dienerin dir zugute. Wenn du aber das Böse tust, dann fürchte dich! Denn sie trägt das Schwert nicht umsonst, weil sie Gottes Dienerin ist; wie eine Rächerin vertritt sie Gottes Zorn gegen den, der das Böse tut. Deshalb ist es notwendig, sich unterzuordnen - nicht nur aus Furcht vor dem göttlichen Zorn, sondern auch des Gewissens wegen. Deshalb zahlt ihr ja auch Steuern; denn die, die sich ständig um die Steuern kümmern, sind Gottes Diener. Gebt also jedem, was ihr ihm schuldig seid: die Steuer, wem ihr Steuern zahlen müsst; den Zoll, wem der Zoll zusteht; Respekt, wer Respekt verdient; Ehre, wem Ehre gebührt.
Das soll also auch für uns im 21. Jahrhundert nach Christus Gottes Wort sein! „Wer sich also der staatlichen Macht widersetzt, widersetzt sich der Anordnung Gottes.“ Wer diese und einige andere der eben gehörten Ausführungen des Paulus unbefangen hört, dem sträubt sich doch sozusagen das Gefieder! Es ist eine Aufforderung zu einem, wie es scheint, bedingungslosen Gehorsam gegenüber dem, was vom Staat und seinen Autoritäten kommt. Dem schleudere ich ein klares „Nein“ entgegen; Sie, liebe Gemeinde, werden es vermutlich genauso tun.
Aber dieses entschiedene „Nein“ hat es nicht immer gegeben, sondern eben die Aufforderung, den staatlichen Gewalten zu gehorchen. Mit Berufung auf die Sätze und Gedanken des Apostels hat Martin Luther im Jahr 1525 den Krieg der Fürsten gegen die Bauern zu rechtfertigen versucht. Der Aufstand der Bauern erschien als Aufstand gegen die legitime Obrigkeit, ein solcher Aufstand durfte mit allen Mitteln bekämpft werden. Ein grauenvolles Blutbad war die Folge.
Paulus wurde benutzt, um im protestantischen Preußen die berüchtigte Untertanenmentalität entstehen zu lassen. Der Gehorsam wurde zur Staatsdoktrin. Demokratie und Freiheit wurden lange Zeit unterdrückt. Auch weil sie die Sätze des Paulus im Kopf hatten, haben viele Christen zur Zeit des Nationalsozialismus nicht gewagt, Widerstand zu leisten. Die Obrigkeit ist von Gott. Sie führt das Schwert zu Recht. Diese Sätze des Apostels haben den christlich motivierten Widerstand in Deutschland gelähmt. Amerikanische Fundamentalisten verstehen Paulus noch heute wörtlich und rechtfertigen undemokratische Handlungen.
Diese schwerwiegenden Beispiele ließen sich leicht vermehren. Was können wir dem entgegensetzen? Eine einfache Antwort darauf wäre die atheistische: Religion – nein danke! Ende der Durchsage! Aber ein Mensch, der bereit ist, sich mit der Bibel auseinanderzusetzen, könnte fragen: Gibt es nicht Bibelworte, die eine ganz andere Haltung zur Welt ausdrücken als die des unbedingten Gehorsams? Und noch jemand anderes könnte darüber nachsinnen, ob es wirklich die Absicht des Paulus gewesen sein kann, einen solchen Gehorsam zu fordern.
Wie stehen wir heute zum Staat und seinen Institutionen? Was erwarten wir, was sehen wir kritisch? Die Einstellung der sog. „Reichsbürger“, die meinen, es gäbe die Bundesrepublik eigentlich gar nicht, werden wir kaum teilen. Ich selbst denke, wir kommen ohne einen funktionierenden Staatsapparat und seine Institutionen nicht aus. Wo viele Menschen zusammenleben, muss es ordnende Strukturen geben und darin Menschen, die sich um diese notwendige Klammern des Lebens kümmern. Und da würde ich zumindest sagen, dass sich das demokratische System, in dem wir leben, bewährt hat und mir ein doch recht sicheres Dasein ermöglicht. Kritik an diesem System ist erwünscht, noch besser ist Teilhabe in irgendeiner Form. Kein Kadavergehorsam gegenüber den Autoritäten, sondern ein Gegenüber als mündiger Bürger!
Es scheint aber, als lebten wir in einer Zeit, in der das demokratische Zusammenspiel von Staat, Gesellschaft und mündigen Bürgern als Gegenüber brüchig geworden ist. Das Erstarken der sog. „Alternative für Deutschland“, die einen anderen, rückwärtsgewandten Staat möchte, gibt zu denken. Genauso wie der Rechtsruck in unseren Nachbarländern. Was ist passiert? Soziologen sehen einen Hauptgrund in den Dauer-Krisen: Klimaveränderung, Coronapandemie, Staatsverschuldung und der Ukrainekrieg vor Europas Haustür (von den anderen Kriegen zu schweigen). Dazu eine Regierung, eine „staatliche Gewalt“ (wie Paulus sagt), die sich in ständigem Hickhack erschöpft, statt lösungsorientiert zu handeln. In Verbindung mit dem Trommelfeuer der sog. sozialen Medien hat sich offensichtlich ein Erschöpfungszustand herausgebildet, in dem der einzelne Mensch verzweifelt nach schnellen Erklärungen sucht und nach Ventilen, um seine Unsicherheit, ja, auch Wut loszuwerden.
Das ist ein Einfallstor für Populisten, und es ist die Zeit für die Suche nach Sündenböcken, die vor allem in den Migranten gefunden wurden und werden. In einer bekannten bayerischen Partei sind es übrigens auch die Grünen, die für alles verantwortlich gemacht werden. Wenn diese anmahnen, die teilweise unverantwortliche Haltung von Haustieren zu überdenken, wird in die Welt gesetzt: „Grüne wollen Haustiere verbieten.“ Auf einer Tagung kürzlich in Leipzig mit Soziologen wurde darauf hingewiesen, dass sich bei vielen Menschen eine Mentalität herausgebildet hat, die den Staat als eine Art Pizzaboten-Dienst betrachtet. Er soll liefern, sonst wird er wütend beschimpft oder gar bedroht. Oder man entzieht ihm das Vertrauen und zieht sich auf sich selbst zurück. Lässt sich mit Paulus in der vorhin gehörten Epistel sagen: Der Gott vieler Menschen ist ihr Bauch?
Das ist eine düstere Analyse und ich bin, Verzeihung, in Rage geraten. Blinder Staatsgehorsam, wie die Worte des Paulus zu suggerieren scheinen, ist kein Weg – Rückzug mit unterdrückter Wut ist auch keiner. Was wollen wir Christinnen und Christen denn nun tun, was sollen wir denken und wie könnten wir uns verhalten, um die Sackgassen zu vermeiden? 2018, in einer Predigt in der Lübecker Lutherkirche am 23. Sonntag nach Trinitatis (wie heute) über Römer 13 anlässlich des 75. Todestages der Lübecker Märtyrer am 10.11.1943 hat Bischöfin Kirsten Fehrs diese Sätze gesagt: „Wir müssen reden, liebe Geschwister, Klartext reden gegen alles, was unsere Demokratie gefährdet, gegen Menschenverachtung, zunehmende Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus.“
Das ist das eine. Das andere ist, übrigens auch angesprochen von der Bischöfin, die Bestärkung unseres Lebensgrunds im Glauben. Paulus, dem es wohl mit seinen für uns zu steilen und missverständlichen Sätzen darum ging, sich als junge Christenheit mit dem römischen Staat in einer eher friedlichen Phase zu arrangieren, schreibt als nächsten diesen Satz: „Bleibt aber vor allem niemanden das schuldig: euch untereinander zu lieben.“ Das klingt heute sehr altbacken, aber ist es damit verkehrt? Wäre nicht viel gewonnen, wenn wir uns im Miteinander als einzelne und als Gesellschaften mit Respekt begegnen würden? Suchen wir nach Quellen, die uns darin bestärken, dass wir alle Geschöpfe Gottes sind, lassen wir nicht nach im Austasten unserer guten Anlagen!
Natürlich würde ich mir wünschen, dass auch diese Predigt einen Beitrag dazu leistet. Aber manchmal frage ich mich auch, ob es in der evangelischen Kirche nicht ein zu viel „an Beredung“ gibt. Das hat der Theologe Fulbert Steffensky, der erst Mönch war und dann Dorothee Sölle geheiratet hat und evangelisch wurde, einmal geschrieben. Wir sind nun einmal seit Luther die Kirche des Wortes. Und so enden viele Predigten, manchmal auch meine, mit gutgemeinten Appellen: Man sollte, man müsste – Weltveränderungsanstrengungen sind gefordert. Die Teile des Gottesdienstes neben der Predigt sind zwar nicht unwichtig, aber schon manche Begrüßung der Gemeinde wird selbst zu einer längeren Ansprache.
Vielleicht geht das „Austasten unserer guten Anlagen“ besser, wenn wir uns mehr einnehmen lassen von der Musik, den Chorälen mit häufig wunderbarer Sprache, den biblischen Texten, die uns fremd in den Ohren klingen, aber etwas verheißen. Den liturgischen Stücken, die von altersher ihren Sinn entfalten möchten. Mit dem Erlebnis der gottesdienstlichen Gemeinschaft und beim Abendmahl. Und die Erfahrung eines Kirchenraums, der uns entrückt aus den Räumen unseres Alltags.
Dazu noch ein Beispiel. Meine Frau und ich wohnen in Lübeck gegenüber dem schönen alten Friedhof und nahe der St. Lorenz-Kirche am Bahnhof. Da ich glücklicher Besitzer eines Kirchenschlüssels bin, gehe ich manchmal herüber in die Kirche, stelle ein Schild „Kirche geöffnet“ vor die Tür, knipse die sog. Dauerbeleuchtung an und lasse leise Musik spielen, die in St. Lorenz aufgenommen wurde. Bei allen bisherigen Öffnungen kamen Menschen in die Kirche. Einige blieben nur kurz, andere verweilten lange, manche kamen mit Tränen in den Augen zurück, weil sie an ihre auf dem Friedhof begrabenen Verstorbenen gedacht haben. Und sehr viele haben sich bedankt, dass die Kirche, die meistens abgeschlossen ist, offen war. Ich erkläre mir das so, dass die Menschen Räume für „das Andere“, nennen wir es ruhig Gott, brauchen. „Worte zerstören, wo sie nicht hingehören“. Das hat die heute kaum noch bekannte und 2017 gestorbene jüdische Sängerin Daliah Lavi gesungen, deren Großeltern vor den Nationalsozialisten nach Israel geflohen waren.
Ich kehre noch einmal zum Predigttext zurück und ergänze ihn mit den Worten Jesu aus dem heutigen Evangelium: „Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört - und Gott, was Gott gehört!“ Das heißt: Gebt dem Staat, was dieser verdient und das schließt auch Kritik ein. Es geht nicht ohne ihn. Aber gebt gleichzeitig Gott das, was ihm gebührt: ein Leben, das vor ihm besteht und das seine Kraft aus der Beziehung zu ihm schöpft. Wie wir es bei Jesus finden, wenn wir genau hinsehen. Unser Gottesdienst bestärke uns darin!